Charakteristisch für das Werk von Hans-Christian Brix sind die zarten Netzstrukturen, die er seit rund fünf Jahren kontinuierlich in neue Zusammenhänge setzt. Ganz auf Linie und Form konzentriert zieht der Markgröninger Designer und Künstler mit der Feder aus präzise gesetzten Tuschepunkten feinste Linien ins weiße Blatt. Linien sind das Grundelement von Brix’ Arbeiten; sie verästeln und überlagern sich bis hin zur Unkenntlichkeit einzelner Striche.
Punktuelle Verdichtungen, mal lockerer, mal engmaschiger gesetzt, verleihen den Netz- gebilden einen gleichmäßigen Rhythmus. Die Liniengespinste, die an die all-over-Gemälde eines Jackson Pollocks erinnern, thematisieren – wie auch die Werke des amerikanischen Actionpainters – die Genese des Bildes. Im Arbeitsprozess, der zwischen kalkulierten und zufällig-spontanen Gesten changiert und malerische, zeichnerische sowie graphische Aspekte aufweist, wird jeder Schritt sichtbar. Das Papier ist dabei mehr als nur Farbträger, seine ausgesparten Flächen fungieren als imaginärer Raum, als Körper oder Materie, in der das Linienknäuel beheimatet ist.

Hans-Christian Brix, der zunächst großformatig und expressiv gearbeitet hat, hat mit der Serie „amorphismus“  (seit 2009) eine klare künstlerische Handschrift entwickelt. Amorphismus, ein aus der Physik entlehnter Begriff, der die Gestaltlosigkeit von Körpern aufgrund einer nicht festen Ordnung der Atome bezeichnet, verweist auf die Instabilität von Brix’ Netzformationen. In ihrer organischen Gestalt ist die Idee der Transformation bereits angelegt: nicht nur, dass die tentakelgleichen Linien im weißen Papierraum nach neuen Andockungsmöglichkeiten zu greifen scheinen, auch glaubt man Momente der Bewegung, des Fließens wahrzunehmen.

 

Hans-Christian Brix, der Medizin studiert hat und sich mit aktuellen Forschungsaspekten
der Neurowissenschaften, der Quantenphysik sowie der Quantenphilosophie beschäftigt, überträgt deren Gedanke von alles verbindenden Kleinstteilchen in seine künstlerische
Arbeit. Vor dieser naturwissenschaftlichen Folie lassen sich die Netze als Konglomerate von Atomen, Synapsen oder Zellen lesen, als eine Art ‚Urstoff’, der „die Welt im Innersten zusammenhält“. Dieses Prinzip, basierend auf der wechselseitigen Kommunikation noch
so winziger Einheiten, lässt sich auch auf andere Ebenen übertragen. So spiegeln die neuronalen Liniengewebe nicht nur den Sitz menschlichen Bewusstseins sowie den
Einzelnen und dessen Verortung in der Welt wider, sondern thematisieren auch die digitale Revolution, die das Verständnis von Bildern und ihrer Verfügbarkeit ebenso grund-
legend verändert hat wie die Kommunikation von Mensch zu Mensch. Die Linearität traditioneller Medien wird von Simulation, Simultanität und dreidimensionaler Infor- mationsarchitektur abgelöst. Ein jeder wird zum Sender und Empfänger von Botschaften
– Brix’ Netzformen machen diese allumspannenden Kommunikationstrukturen sichtbar,
nicht jedoch deren Gehalt.

 

In der Serie „orcus nulla“ (seit 2012) integriert Hans-Christian Brix erstmals figurative Elemente und erweitert damit die Netzformationen um neue Bedeutungsebenen. Für die Darstellung
der wiederkehrenden Motive wie beispielsweise das Werkzeug, die Hände oder die im Raum schwebende Frauenfigur greift er auf die flächige, reduzierte Ästhetik von Graffiti und Scherenschnitt zurück. Kreisförmig gruppiert, aber keine Leserichtung vorgebend, weisen die dargestellten Objekte keine erzählerische Struktur auf, werden aber durch feine Linien zu einem assoziativen Netz verknüpft. Die sieben Blätter der Serie, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können, kreisen um den „orcus nulla“, einem von Hans-Christian Brix kreierten Kunstwort, das auf die griechische Mythologie zurückführt und das der Künstler mit psychologischen Momenten füllt. Mit „orcus nulla“, also der „Nicht-Unterwelt“ benennt Brix die „Leerstelle“ im Sinne von noch unentdeckten Gebieten, die jeder in sich trägt - oder zu tragen glaubt. Dieses Unbekannte zu suchen, zu erforschen und in das Alltagsbewusstsein zu transportieren erfordert, wie es Hans-Christian Brix nennt, „die Vernetzung mit sich selbst“. Dieser Prozess wird in „orcus nulla“ symbolisch und schlaglichtartig dargestellt, so durch die auf den Kopf gestellte Welt, das Graben in tiefere Schichten und die Werkzeuge, welche für die scheinbare Sicherheit des Materiellen steht, an die sich der im Umsturz Begriffene klammert.

Für die Arbeiten aus der Reihe „causa sui“ (seit 2013) erprobt Hans-Christian Brix ein neues Material: Klebstoff. Er experimentiert mit den unterschiedlichen Aggregatzuständen der transparenten Substanz, erforscht ihre Eigenschaften auf verschieden gearteten Bildträgern und untersucht ihre Lichtabsorption. So drippt er beispielsweise den noch flüssigen Klebstoff auf eine weiß grundierte Leinwand oder arbeitet mit schwarzem Klebstoff auf schwarzem Untergrund. Die scheinbar monochromen Werke entfalten erst bei einem bestimmten Einfall des Lichts ihre typischen Netztopografien. Mit Klebstoff hat Hans-Christian Brix zudem das geeignete Material gefunden, um die Linienführungen der Tuschezeichnungen in den Raum zu transferieren. Aus den zähen Klebstofffäden formt er dreidimensionale Kugeln, Trichter und nestartige Gehäuse, die trotz ihrer Skulpturalität im Bereich der Zeichnung zu verorten sind. In der philosophischen Diskussion um die Existenz Gottes bezeichnet „causa sui“ den Selbstzweck beziehungsweise die Selbstursache Gottes. Gott und als dessen Ebenbilder auch jegliche Individuen existieren um ihrer selbst Willen und entstehen aus sich heraus.
Der Nachthimmel von „causa sui II“, transparenter Klebstoff auf schwarzem Mi-Teintes Papier, verdeutlicht den Leitgedanken des Serien- und Ausstellungstitels am eindrücklichsten. In den Schöpfungsgeschichten vieler Kulturen entspringt die Erschaffung des Lebens dem Dunkel, in der Finsternis liegt der Ursprung aller Dinge. Das Mysterium der Welterschaffung vor Augen blicken wir auf den Sternenhimmel, der durch die Koexistenz von bereits erloschenen und noch existenten Sternen unterschiedliche Zeitebenen umfasst und in seiner nicht messbaren Ausdehnung eine für uns kaum begreifbare Ordnung darstellt. „Die einzige Möglichkeit nicht an diesen Fragen zu verzweifeln“, sagt Hans-Christian Brix, „ist die Akzeptanz eines verborgenen Codes, der alles zusammen hält, alles miteinander vernetzt.

Das ist die Idee der ‚causa sui’.“

 

Karin Scheuermann

Impressum